
Dezentrale Prognosemärkte: eine Einführung
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Dezentrale Prognosemärkte gehörten im vergangenen Jahr zu den zentralen Trends der Krypto-Branche – vor allem, weil sie bei der Vorhersage des Ausgangs der US-Präsidentschaftswahl 2024 verlässlichere Ergebnisse erzielten als klassische Meinungsumfragen. Die Plattform Polymarket bezifferte die Wahrscheinlichkeit für Donald Trump, als Sieger der Wahl hervorzugehen, auf 58 % – ein Wert, der näher am tatsächlichen Wahlergebnis lag als viele Umfragen.
Dieser Artikel erläutert zunächst die Funktionsweise dezentraler Prognosemärkte und geht anschließend auf ihre sozioökonomische Relevanz sowie die Risiken für Nutzer ein.
Die Entwicklung der Prognosemärkte
Prognosemärkte lassen sich bis ins frühe 16. Jahrhundert zurückverfolgen, als auf Papstwahlen gewettet wurde. Eine der ersten Plattformen moderner Prägung war jedoch der Iowa Political Stock Market (IPSM) – später umbenannt in Iowa Electronic Markets. Als Forschungsprojekt der University of Iowa betrieben, war der IPSM eine der ersten Anwendungen, bei der Nutzer Finanzinstrumente handeln konnten, deren Wert an den Ausgang realer Ereignisse gekoppelt war. So sagte der IPSM beispielsweise das Ergebnis der US-Präsidentschaftswahl 1988 korrekt voraus – gewonnen vom republikanischen Kandidaten George H. W. Bush.
Dezentrale Prognosemärkte stellen eine logische Weiterentwicklung dieses Konzepts dar. Sie nutzen die Blockchain-Technologie, um die Nutzererfahrung zu verbessern:
Vertrauen: Transaktionen und Ergebnisse werden auf unveränderlichen und öffentlich einsehbaren Datenbanken dokumentiert, wodurch das Risiko von Betrug oder Manipulation sinkt.
Fairness: Die Quoten werden durch Marktkräfte bestimmt und nicht durch zentrale Instanzen, was tendenziell zu besseren Auszahlungen führt.
Geringere Kosten: Das Peer-to-Peer-Modell macht Intermediäre überflüssig, sodass keine zusätzlichen Gebühren anfallen.
Augur gilt als Pionier in diesem Bereich. Die Plattform wurde 2018 gestartet und basiert auf der Ethereum-Blockchain. Sie bietet drei Marktarten an: binäre Märkte (mit genau zwei möglichen Ergebnissen), Multiple-Choice-Märkte sowie skalare Märkte, bei denen ein Wert innerhalb eines bestimmten Bereichs gewählt werden muss (z. B. ein Preisniveau). Nutzer können Anteile in Ether oder dem Stablecoin DAI erwerben und erhalten im Erfolgsfall Rewards in Form von REP, dem nativen Token von Augur. Inhaber von REP können ihre Token staken, um an der Verifizierung von Ergebnissen teilzunehmen oder Einspruch gegen ein Ergebnis einzulegen.
Wie funktionieren dezentrale Prognosemärkte?
Dezentrale Prognosemärkte verkaufen Token, die jeweils ein bestimmtes Ergebnis eines Ereignisses repräsentieren. Nutzer kaufen diese Token mit Kryptowährungen. Je höher der Preis eines Tokens, desto wahrscheinlicher wird das zugehörige Ergebnis eingeschätzt – und umgekehrt. Nach Ende des Ereignisses erhalten die Inhaber der „gewinnenden“ Token eine Auszahlung. Die Token können auch gehandelt werden, falls sich die Wahrscheinlichkeiten verändern.
Die Bedingungen der Wette werden in einem Smart Contract festgehalten – einem Computerprogramm, das automatisch ausgeführt wird, sobald bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Da Smart Contracts jedoch nicht direkt mit der realen Welt interagieren können, benötigen sie eine Möglichkeit, das tatsächliche Ergebnis zu bestätigen. Hier kommen sogenannte Oracles ins Spiel – Netzwerke, die als Schnittstelle zwischen der Blockchain und externen Datenquellen fungieren. Sie sammeln relevante Informationen und leiten sie an den Smart Contract weiter, sodass dieser die Gewinner auszahlen kann. Oracles können entweder zentralisiert sein, d. h., sie werden von einer einzelnen Instanz kontrolliert und greifen auf eine einzige Datenquelle zurück, oder dezentral, wobei sie Informationen aus mehreren unabhängigen Quellen beziehen.
Dezentrale Prognosemärkte nutzen einen Handelsmechanismus namens Automated Market Makers (AMMs). Dabei handelt es sich um Token-Pools, die von Smart Contracts verwaltet werden. Diese Pools enthalten jeweils Token-Paare, deren Gewichtung und Preis sich bei jeder Transaktion anpassen – abhängig davon, wie der Markt die Wahrscheinlichkeit eines bestimmten Ergebnisses einschätzt. Der Hauptvorteil von AMMs liegt in der Sicherstellung von Liquidity. Kleinere Pools sind jedoch anfälliger für Slippage – also Preisabweichungen, die während der Orderausführung auftreten können. Zudem unterliegen AMMs den Gas-Gebühren der jeweiligen Blockchain, die teils stark schwanken können.
Auszahlungen können fest oder variabel gestaltet sein. Bei festen Auszahlungen kaufen Nutzer Token, die ein binäres Ergebnis repräsentieren. Diese Token werden zwischen 0 USD und 1 USD gehandelt – je höher der Preis, desto wahrscheinlicher das zugrunde liegende Ergebnis. Kostet ein Token beispielsweise 60 Cent, entspricht dies einer angenommenen Eintrittswahrscheinlichkeit von 60 %. Am Ende des Ereignisses erhalten nur die Inhaber der „gewinnenden“ Token 1 USD, während alle anderen leer ausgehen. Dieses Modell ist leicht verständlich und fördert eine dynamische Preisfindung, setzt jedoch eine hohe Liquidity voraus.
Variable Auszahlungen werden auch als „Pari Mutuel“ bezeichnet. Hier fließen alle Einsätze in einen gemeinsamen Pool und die Gewinner erhalten einen Anteil am Gesamtbetrag, der sich nach der Anzahl der gehaltenen Token bemisst. Dieses Verfahren gilt als fairer, ist jedoch komplexer, da die exakte Auszahlungshöhe erst nach Abschluss des Ereignisses feststeht.
Der Prozess zur Bestätigung des Ergebnisses unterscheidet sich je nach Plattform. Bei Augur ist das die „Reporting-Phase“ und dauert in der Regel einen Tag. Ein erster Reporter, der zuvor REP-Token gestakt hat, legt dabei ein „vorläufiges Gewinnerergebnis“ fest.
Die nachfolgende Grafik zeigt, wie es danach weitergeht.
Dezentrale Prognosemärkte: welche sozioökonomische Relevanz haben sie?
Dezentrale Prognosemärkte sind mehr als nur eine Möglichkeit, Rewards zu erzielen: Sie dienen auch als verlässlicher Indikator für die öffentliche Stimmung zu bestimmten Ereignissen. Während klassische Meinungsumfragen die US-Wahl 2024 bis zuletzt als Kopf-an-Kopf-Rennen darstellten, war Polymarkets Prognose eines Wahlsiegs von Donald Trump letztlich zutreffender.
Ein Grund für die Aussagekraft dieser Märkte liegt im finanziellen Anreiz. Die Aussicht auf Verluste motiviert Teilnehmer dazu, möglichst realistische Einschätzungen abzugeben – anders als bei Wählern in Umfragen, die keine Konsequenzen bei falschen Angaben fürchten müssen. Persönliche Voreingenommenheit spielt dabei eine geringere Rolle, während etwa das Phänomen der sogenannten Shy Trump Voters – also Wähler, die ihre politische Präferenz gegenüber Meinungsforschern nicht offenlegen – eine mögliche Erklärung für die Schwächen klassischer Umfragen im Jahr 2024 ist.
Prognosemärkte sind zudem rund um die Uhr handelbar, im Gegensatz zu Umfragen, die nur in bestimmten Abständen durchgeführt werden und jeweils nur eine Momentaufnahme der öffentlichen Meinung liefern. Sie ermöglichen laufende Vorhersagen zum Ausgang eines Ereignisses und erlauben es den Nutzern, unmittelbar auf neue Entwicklungen zu reagieren – etwa als Donald Trumps Zustimmungswerte sanken, nachdem Kamala Harris in das Präsidentschaftsrennen eingestiegen war.
Allerdings sind auch Prognosemärkte nicht unfehlbar – Hillary Clinton galt bei der US-Präsidentschaftswahl 2016 als klare Favoritin, unterlag jedoch letztlich Donald Trump.
Regulatorische Beobachtung dezentraler Prognosemärkte
Polymarket, gegründet im Jahr 2020 und aufgebaut auf der Polygon-Blockchain, ist heute einer der größten dezentralen Prognosemärkte. Ende 2024 verzeichnete die Plattform ein Gesamthandelsvolumen von 9 Milliarden USD sowie über 300.000 Nutzer. Allein die US-Präsidentschaftswahl 2024 zog Wetten im Umfang von 3,2 Milliarden USD an. Laut Bloomberg beobachteten sogar mehrere Wall-Street-Unternehmen die dort gehandelten Quoten – darunter auch die Investmentbank J.P. Morgan.
Trotz – oder gerade wegen – ihres Erfolgs geriet Polymarket ins Visier der US-Finanzaufsicht. Im Jahr 2021 einigte sich die Plattform mit der CFTC (Commodity Futures Trading Commission) auf eine Geldstrafe in Höhe von 1,4 Millionen USD. Seit der Präsidentschaftswahl 2024 läuft Medienberichten zufolge eine weitere Untersuchung.
Auch im US-Senat gibt es Kritiker von Prognosemärkten. Im August 2024 wandten sich acht Senatoren in einem Schreiben an die CFTC. Darin hieß es, politische Wettmärkte würden Wahlen beeinflussen und das öffentliche Vertrauen in die Demokratie weiter untergraben. Zudem würden politische Wetten die Motivation der Wähler verändern, indem politische Überzeugungen durch finanzielle Erwägungen ersetzt würden. Die Gruppe unterstützt einen Regulierungsentwurf, der Wetten auf den Ausgang von US-Wahlen verbieten soll.
Welche Risiken bestehen bei Polymarket und vergleichbaren Plattformen?
Das Fehlen klarer regulatorischer Vorgaben birgt für Nutzer erhebliche Risiken, z. B. Insiderhandel. So wurde im Oktober 2024 auf Polymarket ein Markt eröffnet, bei dem gewettet werden konnte, wer am Ende einer HBO-Dokumentation als Gründer von Bitcoin enthüllt würde. Das Wettvolumen belief sich auf erstaunliche 44 Millionen USD, was Bedenken auslöste, ob Mitglieder des Produktionsteams selbst gewettet hatten.
Darüber hinaus sind Prognosemärkte anfällig für Manipulationen, wie z. B. Wash Trading. Das ist eine Praxis, bei der Händler ein und denselben Vermögenswert gleichzeitig kaufen und verkaufen, um das Handelsvolumen künstlich aufzublähen und das Marktinteresse höher erscheinen zu lassen. Das auf Krypto-Risikomanagement spezialisierte Unternehmen Chaos Labs schätzt, dass Wash Trading bis zu ein Drittel des Polymarket-Handels während des US-Wahlkampfs 2024 ausgemacht haben könnte.
Trotz der Bemühungen von AMMs kann ein Mangel an Liquidity dazu führen, dass bestimmte Märkte für Nutzer faktisch nicht zugänglich sind. Während das Handelsvolumen im Vorfeld der US-Wahl stark anstieg, fiel es nach Bekanntgabe des Ergebnisses um 85 %. Dieser Einbruch verdeutlicht, wie sehr Prognosemärkte auf große Ereignisse angewiesen sind, um Aktivität zu generieren.
Einsprucherhebungen können auch zu Auszahlungsverzögerungen führen. Polymarket wies darauf hin, dass Nutzer ihre Gewinne unter Umständen erst zur Amtseinführung im Januar 2025 – also über zwei Monate nach der Wahl – erhalten würden, falls der unterlegene Kandidat das Ergebnis anfechten sollte (wie es Donald Trump im Jahr 2020 getan hatte).
Sollte ein Oracle versagen, würde das Vertrauen in die Plattformen rasch schwinden. Zwar ist dieses Szenario bislang bei Prognosemärkten nicht eingetreten, doch Angriffe auf Datenquellen kommen vor. So liquidierte die DeFi-Anwendung Compound im November 2020 Kredite im Wert von fast 90 Millionen USD, nachdem ein Angreifer den DAI-Preis auf dem Coinbase-Exchange – Compounds einziger Datenquelle – manipuliert hatte.
Aktueller Stand dezentraler Prognosemärkte
Mit einer Marktkapitalisierung von knapp 500 Millionen USD (Stand: Februar 2025) stellen Prognosemärkte derzeit noch einen vergleichsweise kleinen Sektor dar – insbesondere im Vergleich zu etablierten Bereichen wie Gaming (15 Milliarden USD) oder dezentralen physischen Infrastrukturnetzwerken (20 Milliarden USD).
Der mit Abstand größte Akteur ist derzeit Gnosis mit einer Marktkapitalisierung von 463 Millionen USD. (Polymarket hat bislang keinen nativen Token ausgegeben.) Ursprünglich als Prognoseplattform gestartet, hat sich Gnosis zu einem auf Ethereum basierenden Ökosystem weiterentwickelt, das Märkte wie Omen (nach wie vor in Privatbesitz) und den Infrastrukturanbieter Azuro umfasst. Gnosis wird durch eine dezentrale autonome Organisation, die GnosisDAO, gesteuert. Der native Token GNO ermöglicht es Nutzern, an der Governance teilzunehmen.
Polymarket hingegen dominiert in Bezug auf den Total Value Locked (TVL) – eine Kennzahl, die die Einlagen der Nutzer in DeFi-Anwendungen misst. Auf der Plattform wurden über 100 Millionen USD hinterlegt. Der gesamte TVL des Sektors beträgt 135 Millionen USD (Stand: Februar 2025) und rangiert laut dem Krypto-Datenaggregator DefiLlama damit knapp außerhalb der Top-30-Anwendungsfälle.
Fazit
Dezentrale Prognosemärkte ermöglichen es Nutzern, Rewards für präzise Vorhersagen zu Ereignissen wie politischen Wahlen zu erhalten. Durch den Einsatz von Blockchain-Technologie erhöhen sie das Maß an Vertrauen und Fairness im Vergleich zu zentralisierten Plattformen und senken gleichzeitig die Kosten.
Die Wettbedingungen werden in Smart Contracts hinterlegt, während sogenannte Oracles reale Daten erfassen und zur Ergebnisbestätigung bereitstellen. Um für ausreichend Liquidity pro Ereignis zu sorgen, setzen die meisten Märkte auf AMMs.
Den größten Einfluss haben Prognosemärkte bislang im Bereich Politik entfaltet – Polymarket etwa lieferte zur US-Präsidentschaftswahl 2024 eine genauere Vorhersage als viele klassische Umfrageinstitute. Dennoch bestehen weiterhin Bedenken hinsichtlich möglicher negativer Auswirkungen auf demokratische Prozesse wie Wahlen.
Auch der Handel auf Prognosemärkten ist mit Risiken verbunden – insbesondere, weil sie in der Regel nicht reguliert sind. Nutzer sind dadurch potenziell Insiderhandel oder Marktmanipulationen ausgesetzt. Weitere Risiken betreffen unzureichende Liquidity, mögliches Versagen von Oracles sowie langwierige Einspruchsverfahren.
Augur war der erste dezentrale Prognosemarkt, der an den Start ging, doch Polymarket ist heute die beliebteste Plattform gemessen am Handelsvolumen. Gnosis, eine auf Ethereum basierende Plattform, umfasst verschiedene Märkte und weist die größte Marktkapitalisierung in diesem Sektor auf.